Gedanken zum Entwerfen für Norbert Schittek

Hille von Seggern

Lieber Norbert, am besten haben wir uns bei gemeinsamen Betreuungen und bei Vorstellungen von Diplomarbeiten kennen gelernt. Du hast manches Mal gesagt, ich habe eine spezifische Hannoveraner Entwurfsschule entwickelt. Das schmeichelt mir natürlich, auch wenn ich den Begriff "Schule" in diesem Zusammenhang nicht mag, weil er assoziiert, dass man immer sofort die Zugehörigkeit erkennt, die Marke sozusagen, das Label. Mir aber geht es zunächst um eine Haltung zum Entwerfen und zum Gegenstandsbereich des Entwerfens (und ich fasse dabei den wissenschaftlich üblichen Begriff des Gegenstandes in unserem Fach weit). Meine Haltung, der ich mich immer anzunähern versuche, ist Offenheit, Neugier, Experimentierfreudigkeit und Zuneigung zum Gegenstandsbereich und zu den Menschen, die da entwerfen wollen... und natürlich zugleich eine bestimmte theoretisch–praktische Vorstellung.

Deshalb will ich Dir eine Skizze zu dem wesentlichsten Teil dieser Vorstellung von Entwerfen und Entwerfen lehren schreiben. Ich vermute, dass es Dich interessieren könnte und ich hoffe, damit weiteres Gespräch und weitere Betreuungen von studentischen Arbeiten zu befördern.

Damit die Skizze verständlich wird ist es sicher gut, ein paar Sätze vorwegzuschicken:

1. Was soll eigentlich entworfen werden?

2. Und wie begreife ich Entwerfen vor allem in seiner Wirkungsweise ?

Zu 1. Was soll entworfen werden?
Unser Gegenstand ist Raum, genauer gesagt die Entwicklung von Welt wie sie sich räumlich manifestiert. Auch damit ist noch nicht viel gesagt: was ist denn Raum? Ich begreife Raum mannigfaltig, vieldimensional, komplex also, ganz wie seit der Riemannschen Geometrie Raum beschrieben und wahrgenommen werden kann. Darin ist die konkrete räumlich – materielle Ebene nur eine, wenngleich für uns wichtige. Auch die euklidische Raumbeschreibung bleibt als eine Möglichkeit bestehen. Doch auch Geschichte, Menschen und ihre Handlungen und Darstellungen, ihre Wahrnehmungen, Ereignisse, Tiere, Symbolik, Gerüche, Geräusche und Bewegungen aller Art gehören zum Raum.

Und in der Tat, was auch immer wir tun (oder gestalten) wir greifen in dieses hochkomplexe, dynamische Gefüge ein. (gerade hat Hans Poser in seinem Vortrag in unserer Reihe 'Creating Knowledge' die relevanten Aspekte der Erkenntnisse vor allem der Komplexitätswissenschaften noch mal zusammenfassend dargestellt) Unser Gegenstandsbereich ist also einem hochkomplexen, dynamischen, offenen System vergleichbar. Ich nenne dieses System, wenn ich es im Kontext von Entwerfen kleinräumig gebündelt betrachten möchte 'Situation'. Soweit mein Verständnis unseres Gegenstandsbereiches. (Ich befinde mich inzwischen in guter Gesellschaft wie mir u.a. die weihnachtliche Lektüre von Helga Nowotnys neuem Buch von 2005, Die unersättliche Neugier' zeigte).

Vielleicht muss ich noch hinzufügen, was ich unter'Landschaft' verstehe, als im (vermeintlich) engeren Sinne unseren Gegenstandsbereich. (gerade habe ich dazu einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel 'Landschaft', der in den nächsten Wochen in Dresden erscheint). Landschaft ist für mich eine Bezeichnung für eine von Menschen zusammenhängend wahrgenommenen und beschreibbaren Gegenstandsbereich mit bestimmten Merkmalen. In der Regel ist der Begriff emotional geladen, raumbezogen im Allgemeinen positiv verklärt und vergangenheitsbezogen. In unserem Fach ist Landschaft die gesamte Erdoberfläche – mit "unten" als Meeresboden und "oben" als in die Atmosphäre ragend – mit ihren naturräumlichen, anthropogen geformten Merkmalen, die wir nach Ähnlichkeiten und einigermaßen plausiblen Begrenzungen in Landschaften einteilen. Städte sind in dieser Betrachtung Teil von Landschaften und sie können zugleich spezifische Landschaften sein oder eben Städte oder Teil von Regionen oder auch von Fleißgewässereinzugsbereichen usw. Obwohl Landschaft in der Begriffsgeschichte plausibler als großräumige, durch Merkmale beschriebenen Gegenden ist, kann der Begriff auch sehr kleinräumig verwendet werden.(siehe auch die Mikrolandschaften von Brigitte Franzen und Stefanie Krebs)Vereinfachend ausgedrückt sprechen wir immer dann von Landschaften wenn in einer Gestalt eine Art Kontinuum aus Merkmalen aus einem "Boden" oder einem "Grund" – nicht nur räumlich materiell! - heraus im Vordergrund stehen (zurzeit beispielsweise auf der physischen Ebene in der Architektur aktuell wie bei Zahah Hadid unter anderem im Phaeno in Wolfsburg).

Zu 2: Wie begreife ich Entwerfen vor allem in seiner Wirkungsweise?
Das also ist der Bereich, der mich im Entwerfen interessiert: in dessen Entwicklungsprozess ich eingreife. Auch das in inzwischen (fast) Common sense: Wir gestalten nie alles, wir können nicht alle Faktoren festhalten und bestimmen, wir greifen ein in einem Prozess, der auch ohne uns abläuft – und wir versuchen, möglichst schlau in diesen Prozess einzugreifen: gestaltend, betonend, verstärkend usw. - manchmal sicher auch im Sinne von Lösungen. Je klarer ( und oft auch kleiner) unser Gegenstand ist – und je nachdem welche Materialien wir verwenden, nähern wir uns im Entwerfen einem determinierten und determinierendem Vorgang – Maschinen- oder Hausentwurf zum Beispiel – aber je weiträumiger und komplexer unser Gegenstand wird – wie eine Region, eine Stadt, ein Quartier oder auch nur ein Grundstück, eine Gegend – desto offener und weniger vorhersagbar ist die Entwicklung, der Prozess, in die oder den wir eingreifen.

Dies ist in Kurzform mein theoretisches Konstrukt zum Raumbegriff, zur Entwicklung und zur Rolle des Entwerfens und zur grundsätzlichen Wirkungsweise unseres Tuns. Damit ergeben sich auch Hinweise zur Art der Wirkung, die Entwurf bestimmen: Deshalb sprechen wir und suchen nach Interventionen, Akupunkturen, Attraktoren, Impulsen, sprechen von Palimpsets und dergleichen mehr. Wir suchen nach Regeln statt festem Ergebnis, potentiellen Bifurkationen, Selbstorganisation – um ein paar Stichworte zu nennen, die Eingang gefunden haben in das Entwerfen. Damit ist dieses natürlich noch lange nicht vollständig beschrieben und lässt sich auch noch keine erfolgreiche Lehre bewerkstelligen.

Vielleicht gehört noch dazu zu sagen. Bei einem solchen Verständnis von Raumentwicklung ist Entwerfen natürlich ergebnisoffen: es handelt sich – nach meiner Meinung – immer beim (richtigen) Entwerfen um einen Forschungsvorgang Zwar könnte man im sagen, ein Ergebnis könne etwa durch ein Programm in etwa vorgegeben sein, in der Lehre "wisse" der Lehrer schon, wie ein guter Garten an der Stelle aussieht – aber in den offeneren, großräumigen Gegenden gibt es am besten diese Vorgaben nicht. Also das gehört zu meinem Entwerfen: das Ergebnis gilt es forschend zu finden, zu erfinden – Entwerfen ist Forschen - es kann in der Vergangenheit liegen, in der Gegenwart, in der Zukunft – und dazu gehört eine Menge Neugier, eine eigene Offenheit, eine Befreiung von Vorwissen um richtig und falsch, ein möglichst tiefes Wissen über die eigenen Vorurteile, um denen nicht gänzlich auf den Leim zu gehen.

Die Idee, um die es mir im Entwurf und dessen Entfaltung geht ist ihrerseits komplex (auch wenn sie bestenfalls einfach und elegant erscheint) sie ist auf (möglichst) alle Dimensionen des Raumes gerichtet – direkt und indirekt. Sie ist vor allem – nicht nur formal oder im alltagssprachlichen Sinne ästhetisch – das ist sie auch und muss sie auf jeden Fall sein – aber sie ist auch eine funktionale, eine technische, eine gedeihliche, eine kommunikative, eine organisatorische – und benennt dies auch. Sie verknüpft die Ebenen. Von daher ist mein Entwerfen nicht zu trennen vom Planen – von dem ich herkomme – es verbindet beides – fügt dem Planen die oft vergessene Gestalt und dem Entwerfen das oft vernachlässigte Planen im Sinne der gesellschaftlichen, persönlichen, politischen Nützlichkeit und Zielorientierung hinzu.

Dazu braucht viel klassisches Können, harte Arbeit und Erfahrung mit der eigenen Arbeit, mit der eigenen Intuition und mit der Arbeit mit Gefühlen

Das soll als Vorbemerkungen genügen, um den Gedankengang des Aufsatzes nachzuvollziehen, der sich mit dem zentralen Aspekt des Entwerfens beschäftigt: Wie kommt es zu Ideen, wie kommt es zu Neuem im und mit dem Entwerfen?

Entwerfen lehren: Bestand verstehen oder die Frage: wie kommt Neues in die Welt.

1. Einleitung

Seit ich Entwerfen lehre, interessiert mich die Frage, wie Ideen entstehen und wie die Fähigkeit zur Ideenentwicklung in der Lehre unterstützt werden kann.

Üben, Erlernen von Handwerkszeug, Schulung der Wahrnehmung, Beispielanalyse, Kenntnisse von Entwurfsgeschichte und von Entwurfsschulen werden im Allgemeinen als Voraussetzungen des Entwerfenlernens gesehen.

Ob dann eine "Idee" und ein "guter Entwurf" entstehen, wird im Wesentlichen dem Genie (oder schwächer ausgedrückt: der Begabung) zugeschrieben: "Man hat es oder eben nicht".

Ich vermute, es gibt mehr Systematisches über das Genannte hinaus zu lehren. Dabei muss man natürlich das Zusammenspiel von Rationalität und Intuition berücksichtigen.

Aus der Kreativitäts- und Komplexitätsforschung wissen wir inzwischen viel Beschreibendes und Methodisches über den "göttlichen Funken" - wie Arthur Koestler1 in seinem berühmten Buch das "Wunder" der Ideen- oder Lösungsfindung nannte. Doch wenn lediglich Kreativitätsmethoden angewendet werden, bleiben die Ergebnisse dünn, die Ideen sind nicht wirklich neu.

Dennoch sind für den hier verfolgten Gedankengang drei Gesichtspunkte aus der entsprechenden Forschung wichtig:

  • Den Ideen vorausgegangen ist immer ein hoch motiviertes, leidenschaftliches, ausdauerndes Kreisen um die Frage, ein Gefühl der Aufregung und des Beinahe – Verlorengehens. Harte Arbeit und das Kreisen um bereits vorhandenes Wissen, die Voraussetzungen, die zur Lösung führen könnten und der Versuch, sie zu einem neuen Faden zu verbinden sind Teil der intensiven Arbeit. Dies ist etwas anderes als der pure Fleiß, der bekanntermaßen nicht zu Ideen führt.
  • Dennoch wird das Erscheinen der Idee als "plötzlich" – nach einer Art Leere - beschrieben. Und die Art der Lösung erweist sich als Schlüssel zu anderen Fragestellungen, die nicht antizipiert waren.
  • Mit der Ideenfindung ist eine Sicherheit verbunden: So ist es richtig. Das Neue erscheint unterwartet klar, selbstverständlich einfach.

Aus diesen drei Aspekten lässt sich vermuten, dass es erstens einen spezifischen Zusammenhang des Neuen zu dem Vorhandenen, dem Vorherigen, zu den Ausgangsbedingungen gibt.

Zweitens scheint die Art des Umgangs mit der Frage, die Leidenschaft, die Motivation und das Durchhaltevermögen verbunden zu sein. Und die Selbstverständlichkeit der Idee führt zu Freude und Aufregung und motiviert, den weg weiterzuverfolgen.

Mich hat dies veranlasst, mich genau diesen Aspekten in meiner Disziplin zuzuwenden: Dem Umgang mit dem Bestand, unserer Wahrnehmung des Bestandes und dem Zusammenhang zur Ideenfindung.

Insbesondere bin ich daran interessiert, wie man vorhandene Bedingungen jenseits konventioneller Analyse betrachten kann, um eine neue Qualität der Entwurfsarbeit zu befördern.

Denn der Weg von der Bestandswahrnehmung zur Entwurfsidee ist keineswegs eindeutig geklärt.

Dem entscheidenden Aspekt dieses Weges, nämlich dem Schritt zur Idee, widmet sich dieser Aufsatz.

2. Bestand und Geschichte

2.1. Bestandswahrnehmung in den raumplanenden Disziplinen.

Die jüngere Geschichte des Umganges mit Bestand begann mit der wissenschaftlich entlehnten Vorstellung einer objektiven, umfassenden Aufnahme, deren Analyse und, u.U. Mithilfe von Prognosen, daraus formulierten Zielen. Die Erkenntnis, dass dieser Vorgang weder objektiv, noch vollständig ist, noch Zukunft prognostizierbar ist, führte zu problem- oder zielorientierten Bestandsaufnahmen und Szenarien möglicher Zukünfte. Obwohl diese mehr handlungsorienierten Vorgehensweisen besser geeignet sind bleibt das Dilemma das Gleiche, soweit es um Entwürfe für Neues geht: nicht automatisch entstehen aus dem Vorgehen gute Entwürfe und neue Ideen. Ein anderer Ansatz liegt der erfinderischen oder kreativen Bestandsaufnahme zugrunde (vor allem von Bernard Lassus2 formuliert). Hierbei wird erstens Intuition respektiert und ihr Raum gegeben. Und es wird zweitens Erfindung direkt, explizit mit Bestand verbunden.

Ideengeschichtlich knüpft dies an zwei Traditionen an: Zum einen die Suche nach dem "Genius Loci",3 als dem Geist, dem Wesen des Ortes, woran anzuknüpfen sei. Harmonisch fortführende Ergebnisse folgen oft daraus.

Mit der Idee des "minimalen Eingriffs" knüpft diese Methode zweitens beispielsweise an die Situationisten4 an, (und viele zwischenzeitlich aktuelle (Kunst)praktiken) die mit provozierenden Interventionen, Leidenschaft und Begehren für das Neue, für die Veränderung wecken wollten. Originelle, eigenwillige Ergebnisse folgen oft daraus. (Die Interventionsmethode als solche erfreut sich inzwischen planungs- und entwurfsmethodisch großer Verbreitung, was nicht zuletzt wiederum der Komplexitätsforschung und im speziellen der Chaosforschung zu verdanken ist.5)

Beide genannte Ansätze gehen von einer unmittelbaren Beziehung zwischen Bestand und dem Neuen aus.

Vor allem bezogen auf den Bezug zur Geschichte unterscheiden sich die Ansätze der Situationisten und Genius Loci. Lassus, kann man sagen verbindet beides.

Jedoch bleiben die Qualität und der Zugang zu dieser unmittelbaren Beziehung auch bei ihm vage. Theoretische Durchdringung wie Anwendungsmodi in Lehre und Praxis sind zu entwickeln.

2.2 Geschichte verstehen

Fast alle Theorie und Praxis des Entwerfens misst der Geschichte von Situation und Aufgabe große Bedeutung bei.
Die aus dem "Genius Loci" abgeleiteten Entwurfslehren haben die Tendenz, Geschichte als kontextuellen "Fortsetzungsroman" in Strukturen, Materialien, Formen usw. zu behandeln. Das beinhaltet als Gefahr, in der äußeren Identifikation zu bleiben. Die Situationisten dagegen haben eine Art "Sprungtechnik" (Intervention als Sprung), um das Neue zu "erzwingen". Dies kann gelingen, oft wird es beliebig. Doch wenn das Springen zum Überspringen wird, beinhaltet es die Gefahr, dass nicht erkannt wird, wie Geschichte sich, gekleidet in ein neues Gewand, wiederholt.

Dies aber ist schon in der berühmten Aussage von Karl Marx – inzwischen so etwas wie "state of the art" - formuliert worden:
Die Folge nicht verstandener Geschichte ist ihre Wiederholung zunächst als Komödie, dann als Farce und schließlich als Drama.
Das heißt, die skizzierten Ansätze führen nicht unbedingt zu tatsächlichen neuen Lösungen, der als Drama bezeichnete Zustand kann erreicht werden.

Ohne "Verstehen”, so folgt daraus, ist eine bloße Wiederholung von Geschichte wahrscheinlich, statt die bestehende Situation mit einer frischen, neuen Idee in einem tieferen Sinne zu verbinden.

Meine These ist also, dass in der Tat, "Verstehen" der zentrale Begriff für den Zugang zum Bestand ist - zu dem selbstverständlich Geschichte gehört - und darüber hinaus für die Beziehung zwischen Bestand und dem Neuen.

Aber was genau bedeutet "Verstehen"?

3. Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer )

Umgangssprachlich drücken wir mit dem Wort Verstehen eine umfassende emphatische Qualität aus, etwas an dem das Herz beteiligt ist, das über den Verstand hinausgeht.
Hermeneutik ist das Verfahren des Verstehens. Weiterführend für den hier verfolgten Gedankengang ist Gadamers Philosophie der Hermeneutik ("Wahrheit und Methode", Erstveröffentlichung 1960). Im Verstehen treffen nach ihm Geist und Sein zusammen, Verstehen ist die Schnittstelle von Wissen und Sein. Er verbindet (wieder) Wissenschaft und Erfahrung und nimmt vor allem die Erfahrung von Kunst und Geschichte in den Blick. Im Verstehen steckt bei Gadamer sowohl das verstandesmäßige, kognitive, als auch der Anwendungsbezug (sein Handwerk verstehen), das sich verständigen und der Aspekt des Zustimmens zur Sache, um die es geht. Um Verstehen zu erreichen spricht Gadamer von der notwendigen Zuneigung zum Gegenstand. Und bei Erkenntnis, also auch dem Neuen, spricht Gadamer von Wiedererkenntnis. Verstehen wird angesiedelt im Grenzbereich des Nicht-Benennbaren und Verbindungen wie Abgrenzungen zur Spiritualität gezogen. Dabei ist Gadamer mehr der Vergangenheitsbezug wichtig, seinem Lehrer Heidegger mehr der Zukunftsbezug. Verstehen, wie ich es hier verwenden will, umfasst mit seinem transformatorischen Charakter beides. (Natürlich ist diese Interpretation sehr vereinfacht. Eine sehr gute Einführung zu Gadamer gibt "Gadamer's Basic Understanding of Understanding" von Jean Grondin in: The Cambridge Companion to GADAMER, edited by Robert J. Dostal, Cambridge University Press 2002).

Wie aber ein Mensch, die Fähigkeit zu einer solchen Art des Verstehens und der Erkenntnis erlangen kann, oder zumindest eine entsprechende Erfahrung machen kann ist selbstverständlich nicht Gegenstand der Philosophie.("How we learn, Gadamer cannot specify, because his hermeneutics does not aim to offer a methodology or technology, but an account of what understanding is and how it involves our very being."6

Dies jedoch ist jedoch zentral für die Lehre. Von daher macht es Sinn, Erkenntnisse zeitgenössischer Psychologie hinzuzunehmen, die von derselben Erkenntnis über "Verstehen" ausgeht und mit ihren praktischen Methoden, Material bereithält, das die Erfahrung von "Verstehen" unterstützen kann.

4. Psychologische Bezüge

Auch in der Psychologie wird "Verstehen" als Voraussetzung und als Übergangsphänomen gesehen vom Alten zum Neuen. Der Entwicklungsprozess der Menschen wird als ein Entfaltungsprozess gesehen. Verstehen wird darin als ein Vorgang begriffen, in dem Rationalität, Intuition, Körper, Erfahrung und Erinnerung zusammenspielen. "Verstehen" wird als Königsweg zur Auflösung der Wiederholung alter, meist aus der Kindheit stammender (Verhaltens)- Muster gesehen. Die Wiederholung, das Festhalten am Vertrauten vermittelt Sicherheit. Ziel der oft schmerzhaften und mannigfaltig "verkleideten" Wiederholung ist gleichwohl, endlich die Lösung, endlich Neues zu finden. Verstehen heißt dann hier, die emphatische Identifikation spüren, sie im Herzen bewegen - und loslassen – in die Leere fallen und dann die Freiheit spüren, das Neue bemerken und die Freude darüber empfinden.

Verstehen wird damit eindeutig von Identifikation unterschieden. Identifikation als verschmelzende, festhaltende verhindert Verstehen. Identifikation ist statisch, behindert den notwendigen Prozess der Transformation, der für eine Ideenfindung entscheidend ist.

Verstehen als Zugang zum Neuen wird damit auch unterschieden vom Vorgang des Überspringens, als Versuch, Neues zu erzwingen.

Obwohl Identifikation als Verschmelzung und Festhalten Neues behindert, ist es emotionale Voraussetzung für das Loslassen. Ebenso ist das Springen, auch wenn es Flucht vor dem jeweiligen Problem sein kann, notwendige Fähigkeit auch für mutige Interventionen ohne den Verlust des Kontaktes zur Essenz der Situation.

Dies ist äußerst wichtig als Gegensatz zu der durchweg naiv positiven Besetzung des Begriffes der Identifikation in den raumplanenden Disziplinen.
Ebenso wichtig ist, die Erfindung von Interventionen als Mittel zum Verstehen zu begreifen.

Verstehen und die Unterstützung von Entfaltung, so zeigt die psychologische Dimension, erfordert also Mut, Phantasie und Zuneigung, lässt sich locken, aber nicht erzwingen. Gerade die Einladung zum Verstehen erfordert eine empathische Haltung voller Zuneigung und Durchhaltevermögen.

Ein Methodenrepertoire und eine Ästhetik der Kommunikation sind erforderlich. Dies lässt sich aus der Psychologie lernen und in modifizierter Form anwenden.

5. Kleiner Exkurs über das Wort "Verstehen": Ein Beispiel aus der bildenden Kunst

Eine entsprechende Deutung des Wortes "Verstehen" in der Kunst verdanke ich der römischen Malerin Trude Fumo:
Im Wort Verstehen zeigt sich etymologisch ein Übergangsphänomen: Es heißt zugleich "davor stehen bleiben" und "hinübergehen". Dies ist das Thema mehrerer Lesebilder der Malerin. Indem sie das 'ver' und das 'stehen' getrennt untersuchte, zeigte sich die dem Begriff innewohnende Bedeutung.

6. Naturwissenschaftliche Gesichtspunkte

Was ist Erkenntnis, was ist Erfindung? Von einem Entfaltungsprozess sprechen auch verschiedene naturwissenschaftliche Disziplinen: die Hirnforschung von der Entfaltung des potentiell möglichen - also bereits vorhandenen - im Gehirn. Physik und Geophysik gehen von Entfaltungsprozessen in der Entwicklung des Kosmos aus. Die Biologie spricht von Prozessen der Emergenz des Neuen aus dem Bestehenden. In der Mathematik wird entsprechend mit Transformationsgleichungen gearbeitet.

So kann man sagen, dass sowohl in Geistes- und Erfahrungswissenschaften als auch in Naturwissenschaften das Neue als die Entfaltung, die Entdeckung des schon Vorhandenen begriffen werden. Das Erfinden betrifft damit das potentiell mögliche.
So wird in Kunst und Wissenschaft ebenso plausibel, wieso das Neue so unmittelbar mit dem Alten verbunden ist. Und dies macht es weiterhin verständlich, wieso das Neue, wenn es einmal da ist, so erscheint, als ob es schon immer so war.

7. Zusammenfassung: Verstehen zwischen Wagemut, Sehnsucht und harter Arbeit

Voraussetzung für Idee und damit für den entscheidenden Entwurfschritt, ist also dieser das Alte und das Neue koppelnde Schritt des Verstehens – der im Verlauf des Entwerfens wiederholt werden muss.
Solange das Neue nicht da ist, ist es bedrohlich. Das Neue erfordert Mut, Wagemut. Doch wenn das Neue in dieser transformatorischen Qualität des Verstehens erscheint, ist es mit Glück, Freude, Staunen, Energie verbunden. Es hat dann die Qualität des schon immer gewollten, des vertrauten, des Richtigen. Dann weckt es die Sehnsucht, dann ist der Same für die Bereitschaft zu jener erforderlichen leidenschaftlichen Arbeit gelegt!
Meine These für die Lehre ist folglich: Mit dem Verständnis des Vorganges und dem - verwandelten - emphatischen Repertoire der Psychologie lässt sich diese spezielle Geist - Intuition - Körper - Erfahrung in der Lehre locken.

8. Entwerfen lehren

Aus dieser Erkenntnis heraus sind alle meine Strategien, Übungen, Fragen, Hinweise, Kommentare, Herangehensweisen, experimentelle settings darauf ausgerichtet, diesen Prozess im Entwerfen in Gang zu setzen. Und das Entwerfen – in unserem Fach - ist dafür ein geeigneter Modus, weil es Intuition und Rationalität verbindet, weil es nach ganzheitlichen, neuen Bildern sucht, weil es mit den verschiedenen Medien arbeitet, weil es notwendig am Bestand ansetzend hypothetische Schritte in die Zukunft formuliert, die immer kommunikativ mit Gesellschaft und Individuum verbunden werden und auf potentielle Realisierbarkeit ausgerichtet sind.


1 Koestler, Arthur, Der göttliche Funke, Bern, München, Wien, 1966.

2 u.a. Lassus, Bernard 1999: Die Erfindung des "espace propre" in: Udo Weilacher: zwischen Landschaftsarchitektur und Landart, Basel, Berlin, Boston, 1999, S. 105 - 120.

3 Norberg-Schulz, Christina: Genius Loci – Landschaft, Lebensraum, Baukunst, Stuttgart, 1982.

4 Levin, Thomas Y.: Über die Situationisten, in: Arch + 1, 1997/1998 39/140.

5 Meine Entwicklung dieses Ansatzes: Seggern, Hille von, u.a.: Systemische Planung, Bonn (Hrsg. BFLR), 1997.

6 Jean Grondin, Gadamer's basic Understanding of Understanding, S. 45.